Haare (Hair)
Das amerikanische Schock- und Rock-Musical
Musik von Galt MacDermot
Text von Gerome Ragni und James Rado
Deutsche Fassung der Songs: Walter Brandin
Deutsche Fassung des Buchs: Ulf von Mechow und Karl-Heinz Freynick
Inszenierung
Deutschsprachige Erstaufführung: 24. Oktober 1968
Theater in der Brienner Straße, München, Bundesrepublik Deutschland
- Regie: Bertrand Castelli
- Musikalische Leitung und Bandleader: Steve Gillette
- Dance Director: Paul Godkin
- Kostüme: Edith Matisek
- Bühnenbild: Louis Nugue
- Licht: Jules Fisher und Michael Wilson
Besetzung:
Das Ensemble [ohne Rollenzuweisungen]:
- Jonathan Andrews
- Lyvia Bauer
- Charles Berry
- Jimmy Carter
- Günther Dietrich
- Peter Drescher
- Barbara Eff
- Donna Gaines
- Helga Gillette
- Peter Gruschka
- Christine Günther
- David Heinemann
- Ann Helstone
- Udo Janson
- Elke Koska
- Gudrun Kramer
- Michael Martin
- Renate Maurer
- Stefan Michel
- Stella Mooney
- Bernd Redecker
- Birgit Rüssmann
- Enno Schnetz
- Reiner Schöne
- Minoru Terada
- Shirley Thompson
- Bernd Tischer
- Helga Tölle
- Horst Twieg
- Verina Weiss
- Ron Williams
Premierenchronik
USA | UA | 29. April 1968 | Biltmore Theatre, New York |
GB | EA | 27. September 1968 | Shaftesbury Theatre, London |
D | Dspr. EA | 24. Oktober 1968 | Theater in der Brienner Straße, München |
A | EA | 23. April 1970 | Stadthalle, Wien |
CH | EA | 4. September 1970 | Musical-Theater am Helvetiaplatz, Zürich |
Inhaltsangabe
Dramaturgisch besitzt das Stück eine offene Form, ohne Anfang und Schluss. Eine definitive Handlung, die den Szenenaufbau eindeutig festlegt, gibt es nicht (so dass unterschiedliche Textfassungen existieren). Auch eine überschaubare Geschichte, mit erkennbarer Exposition, Klimax und Auflösung, findet man nicht. Stattdessen bietet sich das Stück als ein wildes szenisches Kaleidoskop dar.
In der Regel beginnt und endet die Aufführung im Zuschauerraum. Während die Darsteller am Anfang Blumen und Räucherstäbchen verteilen, bevor sie die Bühne erklimmen, werden die Besucher zum Schluss aufgefordert, nicht nur räucherstäbchenhaltend am Initialritus der Aufführung teilzuhaben, sondern auf der Bühne mit der Cast zu tanzen. Diese Brechung der theatralischen Illusion durchzieht das Geschehen mit einer zweckdienlichen epischen Erzählebene, die es dem Publikum leicht macht, die psychologisch nur angedeuteten Figuren zu akzeptieren. Den Autoren geht es nicht vordergründig um die Charaktere von Claude, Berger, Sheila, Hud oder wie sie sonst heißen, sondern ihre Handlungen sind nur wichtig als Mitglieder des „tribes“. Die persönlichen Nuancen sind austauschbar, das Hauptaugenmerk liegt auf der „Horde“ oder dem „Stamm“ (wie es in den deutschen Übersetzungen heißt) und dessen gemeinschaftlichen Erlebnissen. Der persönliche Held konventioneller Musicals ist dem kollektiven Helden gewichen. So fügt sich aus vielen unzusammenhängenden, scheinbar zufälligen Episoden, die überwiegend musikalisch gestaltet sind (bei nur wenigen überleitenden Textpassagen) das komplexe Bild einer Jugend im Wertekonflikt: Der tribe besingt gemeinsam quasi-religiös das neue anbrechende Zeitalter, das im astrologischen Zeichen des Aquarius steht und die spirituelle Erneuerung der Welt verspricht; Hud klagt den alltäglichen Rassismus an, dem er als Schwarzer ausgesetzt ist; Sheila, die Peace-Aktivistin, tritt als Johanna von Orleans auf und berichtet vom Kampf gegen das amerikanische Verteidigungsministerium; Claude wird von seinen Eltern gescholten, weil er nicht so werden will wie sie; Berger bedrängt Claude, seinen Einberufungsbefehl nach Vietnam zu verbrennen; die Anthropologin Margaret Mead lässt sich erklären, warum die Männer im tribe lange Haare tragen; parodistisch drängt man sich unter die amerikanische Flagge, einige legen ihre Kleidung ab; zu indischen Hare-Krishna-Gesängen findet man sich beim „Be-In“ zusammen, mit dem angestimmten Mantra „Om“ beschwört der tribe die allumfassende spirituelle Liebe; man raucht Haschisch und nimmt LSD; für Claude wird der Rausch zum Alptraum, der ihn in ein bizarres Kriegsgeschehen versetzt, jeder tötet jeden, sinn- und ziellos – bis Claudes halluzinierter Trip wieder in der Gegenwart anlangt und ihm seine Eltern verkünden, wie stolz sie sind, ihn jetzt nach Vietnam gehen zu sehen; es ist Abend geworden; eine alte Matratze wird auf die Bühne gezogen, alle außer Claude kriechen in einen riesigen Schlafsack, die „freie Liebe“ feiernd; Claude rückt zur Armee ein und kehrt, in Vietnam gefallen und daher unsichtbar für die anderen, zurück, während der tribe im Finalchor an die Zuschauer appelliert: Let The Sunshine In!
(Wolfgang Jansen)
Kritiken
"Was sonst bundesrepublikanischen Müttern den Schaum vor den Mund treten läßt und ihnen ´Totschlagen würde ich ihn´ entlockt - eine ordentliche Frau während der Essener Songtage -, wurde jetzt bejubelt: Haare, einfach Haare, lange Hippiehaare in einem Hippiemusical. Das sind eben die Tücken, wenn man sich mit Kultur einläßt: Die Dinge werden genießbar, selbst Haare werden dann offenbar Konsumgut.
Und nett war´s. Versöhnlich. So eine richtige Premiere. Von Schock und Rock keine Rede. Amüsiert haben sich die Älteren, die Jüngeren fanden´s eher langweilig, faaade. [...]
Selbst Bild ist jetzt progressiv geworden, spricht aufklärerisch zu den Eltern: ´Säckchen heißt Säckchen, und Schlitzchen heißt Schlitzchen.´ ´Pfui´ also gibt´s nicht mehr. Wer soll sich da noch auskennen? Vielleicht kann man dann doch noch irgendwann einmal ein richtiges Hippiemusical sehen?"
Florian Fricke: Da war die Society high, Das Musical "Hair" im Münchner Theater an der Brienner Straße. In: Süddeutsche Zeitung, 26. Oktober 1968.
"Ein etwa wirres Durcheinander all dieser sanften und harten Themen kreist zwar im Hippiegehirn, ist Bestandteil seines Lebensgefühls, und im Blow up hätte es auch völlig gereicht, mal hier, mal da ein bißchen zu bohren. Doch wer sich ins Theater begibt, kommt darin um. Das mit Beatgestampfe, sanftem Schaukeln, Koksen, ´Reise´-machen vorgeführte Hippie-Metier kann, wenn man das Publikum noch vor sich sitzen und nicht bereits herumtanzen hat, nicht auf Theater-Metier verzichten. Da gelten Gesetze in bezug auf Handlungsbau, Proportionen, die der vergnügteste Traditionsknacker nicht aus der Welt schafft, ohne schließlich Langeweile zu ernsten.
Untrügliches Zeichen, daß was faul war: nach der Pause erwartete man nichts mehr, nichts Neues, nichts Anderes, vor allem nichts Gesteigertes, Weitergeführtes. Und es geschah dann genau, was immer geschieht, wenn Leute ihre Position wackeln sehen: sie werden lauter. Mit Brüllen, Stampfen, Lichteffekten suchten sie den toten Punkt zu überdröhnen. Es war nichts mehr zu machen."
Beate Kayser: Von Kopf bis Fuß auf Hippie eingestellt, Brienner Straße: Deutsche Erstaufführung des Musicals "Hair". In: Münchner Merkur, 26. Oktober 1968.
"Wochenlang war die Erwartung hochgepeitscht worden. ´Haare´, das amerikanische Schock- und Rock-Musical von Gerome Ragni und James Rado, Dauererfolg am Broadway und in London, sollte wie ein sengender Orkan ins morsche Establishment fahren, flammendes Credo einer trunkenen Jugend, die sich gegen zivilisatorische Zwänge, Väterautorität und Kriege aufbäumt und mit Sextaumel, Drogenrausch und ekstatischer Sanftmut der Blumenkinder einem Unschuldsparadies bedürfnislosen Glücks und allgemeiner Menschenliebe entgegenstürmt. Was man im Münchner Theater in der Brienner Straße erlebte, war ein fröhlich lärmender Mummenschanz, vorweggenommener Fasching mit dem prickelnden Reiz der anrüchigen, wohl dosierten Frischzellentherapie für den vergreisenden Amüsierbetrieb.
[...] Was bleibt, sind einige Momente bravouröser Regie (Bertrand Castelli), so die im zerhackten Licht zu einer rasenden Folge erstarrter Schockbilder gerinnenden Kriegsszenen - und die exaltierende Durchschlagskraft der Musik von Galt McDermot, deren Rhythmus und Klangekstasen einen dionysischen Kult zu untermalen scheinen.
Alles in allem ist das immer noch zehnmal aufregender als die klischierte Munterkeit landläufiger Musicalproduktionen. Aber die spontane und unverfälschte Selbstdastellung einer neuen romantischen Generation ist ´Haare´ schon nicht mehr. Die Hippie-Kultur mit ihrer protestierenden Unbekümmertheit und existentialistischen Verlorenheit ist da bereits vom Showbusiness kommerziell vereinnahmt und hygienisch zu Konserven verarbeitet worden."
H.K.: Fröhlich lärmender Mummenschanz, Deutsche Erstaufführung des Musicals "Haare" von Ragni und Rado in München. In: Nürnberger Nachrichten, 26. Oktober 1968.
Medien / Publikationen
Audio-Aufnahmen
- "Haare" ("Hair"). Theater an der Brienner Straße, München, Studio-Einspielung, Polydor 249 266 (LP).
- "Hair". Theater an der Brienner Straße, München, Donna Gaines und Ensemble, Polydor 53 107, Vinyl-Single, A-Seite: Wassermann, B-Seite: Finale.
- "Hair" (Gesamtaufnahme), Theater an der Brienner Straße, München, Polydor 2437 042, Doppel-LP.
- "Das ganze Hair, Deutsche Original-Gesamtaufnahme München", Life-Mitschnitt 1970, Polydor 2630 025, Doppel-LP.
Literatur
- Wolfgang Jansen: Hair - "Das amerikanische Schock- und Rock-Musical", Die Hippies, das Musical ´Hair´ und dessen deutschsprachige Erstaufführung 1968. In: Michael Fischer, Christofer Jost (Hrsg.): Amerika-Euphorie - Amerika-Hysterie, Populäre Musik ´made in USA´ in der Wahrnehmung der Deutschen 1914-2014. Populäre Kultur und Musik, Band 20, Münster u.a.: Waxmann 2017, Seite 277-307.
- Reiner Schöne: Let the sunshine in, Erinnerungen und Stories. Bielefeld: Pendragon 2004.
Kommentar
Der Broadway-Uraufführung gingen zwei Premieren voraus. Die erste Fassung des Stücks ging am 29. Oktober 1967 im Public Theater, New York, an den Start, die zweite Fassung am 22. Dezember 1967 in der Discothek Cheetah.
Die Aufführungen in Wien und Zürich waren Tourneegastspiele der Münchner Erstaufführung.
Empfohlene Zitierweise
"Haare" ["Hair"]. In: Musicallexikon. Populäres Musiktheater im deutschsprachigen Raum 1945 bis heute. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Klaus Baberg in Verbindung mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. www.musicallexikon.eu
Letzte inhaltliche Änderung: 24. Juni 2020.