Fromme Lügen
ein Kammermusical nach einer Novelle von Irene Dische mit Musik von Alan Marks
für die Bühne bearbeitete Musik von Wolfgang Böhmer
für die Bühne bearbeiteter Text von Peter Lund
Songtexte von Irene Dische
Übersetzung von Peter Lund
Der Songtext von 'Berlin bei Nacht' von Boris Pilar
Inszenierung
Uraufführung: 23. September 1999
Neuköllner Oper, Berlin. Bundesrepublik Deutschland
- Musikalische Leitung: Hans-Peter Kirchberg / Alexander Klein
- Regie: Bernd Mott
- Bühnenbild: Dirk Immich
- Kostüme: Susanne Suhr
- Choreographie: Nicola Wendt
Besetzung:
- Esther Becker: Christiane Mueller
- Charles Allen: Boris Pilar
- Johannes Allerhand: Klaus Hoser
- Mrs. Allen: Silvia Bitschkowski
- Baruch: Anton Rattinger
- Leon Rosen: Michael Hoffmann
- Frau Becker: Karin Bremer
- Frau Bilka: Josta Hoffmann
- Herr Nadler: Wolfgang Teddy Klapper
Premierenchronik
D | UA | 23. September 1999 | Neuköllner Oper, Berlin |
Inhaltsangabe
"1984 kommt der Amerikaner Charles Allen nach West-Berlin, das Erbe seines jüdischen Vaters anzutreten; ein kümmerlicher Gebrauchtwarenladen im Windschatten der Mauer, wütend am Leben gehalten von der aggressiven Geschäftsführerin Esther. Sechs Tage will Charles bleiben, mit der festen Absicht, sich weder auf Deutschland noch auf seine Vergangenheit einzulassen. Aus sechs Tagen werden sechs Monate. Und am Ende passiert eine Katastrophe.
Die Geschichte von Esther und Charles, der ungleiche Kampf zwischen der vitalen Jüdin und dem katholisch wohlerzogenen Amerikaner, um das Geschäft und um Charles' Relegion, voll von 'frommen' Lügen und vererbten Geheimnissen, ist eigentlich die Geschichte von dem unmöglichen Wunsch, endlich eine grauenhafte deutsche Vergangenheit ebenso vergessen zu dürfen wie die eigenen Eltern."
Infotext der Neuköllner Oper, 1999.
Kritiken
"'Fromme Lügen' ist ein eher sperriges Stück Musiktheater. Ambitioniert und irritierend. Und seine Musik hat ganz bestimmt nichts gemein mit typischen Musicalmelodien. Die Neuköllner Oper in Berlin ist einmal mehr ein Wagnis eingegangen, rüttelt mit dieser Aufführung gar an ein Tabu.
[...] Peter Lund, Leiter dieses aktiven Berliner Off-Theaters, hat eine Novelle der jüdischen Autorin Irene Dische für die Bühne aufbereitet. Die Autorin hat die guten und schlechten Eigenschaften durchaus gerecht auf ihre Figuren verteilt, egal ob Juden, Christen oder was auch immer. Und weil 'Fromme Lügen' eine Geschichte über kleine Unwahrheiten und vor allem eine heftige Lebenslüge ist, hält sie auch mindestens eine große überraschende Wendung bereit.
[...] 'Fromme Lügen' trägt die Bezeichnung 'Kammermusical'. Und so ist auch die von Wolfgang Böhmer bearbeitete Musik, geschrieben von Alan Marks, dem unvergessenen US-Berliner Pianisten. Und sie kommt uns hier daher eben wie Kammermusik, gespielt von einem Klavierquintett. Am Anfang begeistern Songs, die geschickt zwischen Dialog und Gesang wechseln, mitreißende Ensemble-Nummern wie der 'Berliner Walzer", - zum Ende hin aber wirken sie manchmal leider wie willkürlich eingestreute Liedchen, die der Handlung etwas den Fluss nehmen. Trotzdem: dieses Stück Musiktheater ist sehenswert, - erlebenswert, auch wenn der Schluß etwas zu hart geraten ist..."
Jürgen Büsselberg: Fromme Lügen. Neuköllner Oper. In: musicals, Das Musicalmagazin, Heft 80, Dezember 1999/Januar 2000, Seite 20-21.
"Irene Disches mutige Erzählung kennt keine Political Correctness. Sie bricht mit Tabus, artikuliert zynisch jene Vorurteile und Klischees, für die gemeinhin jeder, der sie zur Diskussion stellt, zum Antisemiten abgestempelt wird. Auch Irene Dische musste sich diesen Vorwurf gefallen lassen. Ungeachtet der Tatsache, dass sie selbst Jüdin ist. Wie die Figuren in ihrem Stück. Und wie Alan Marks, der die Songs für die Bühnenfassung schrieb, die jetzt in der Neuköllner Oper uraufgeführt wurde.
"Fromme Lügen", bearbeitet von Wolfgang Böhmer (Musik) und Peter Lund (Text), inszeniert von Bernd Mottl, provoziert gemischte Gefühle, verunsichert und verwirrt. Es gibt Längen, Einbrüche im Spannungsbogen. Die Songs für Streicher und Klavier sind hübsch, aber einförmig. Das Bühnenbild: eine nicht wirklich geglückte Viebrock-Imitation. Die Ausflüge einzelner Schauspieler ins Boulevardeske: fehl am Platz. Mehr als einmal fragt man sich: Was soll das Ganze? Aufklären, sagt Irene Dische. Aber wen und worüber? Am Ende entpuppt sich Esther als Tochter eines Nazis. Christiane Mueller spielt diese ambivalente Rolle virtuos, vor Energie berstend, aggressiv, hart, berechnend, verletzbar und liebenswert zugleich. Dennoch: "Fromme Lügen" hinterlässt eine seltsame Mischung aus Leere und Ratlosigkeit - und wirft wesentlich mehr Fragen auf, als es beantworten könnte."
JB: Aufklären - aber worüber? In. Die Welt, 25. September 1999.
"Die komplexen Erzählebenen der Novelle werden in der Dramatisierung von Peter Lund geschickt in Simultanszenen und geradezu filmische Überblendungen aufgelöst. Der Regisseur Bernd Mottl arrangiert das Stück gefällig zwischen Musical und Betroffenheitsdrama und gleitet auch beim lustvoll bedienten Klischee vom "Anatevka-Juden" nicht in plumpen Kitsch ab. Besonders Boris Pilar zeigt in kleinen Gesten höchste Kunst. Vom linkischen Jungen entwickelt er sich zum Individuum, zum Menschen, der schließlich seine Identität erkennt.
[...] Die Songs sind immer dann gut, wenn sie hemmungslos Klischees bedienen oder an Revue- und Musicalseligkeiten anknüpfen können. In den Strecken dazwischen plätschert die Musik harmlos dahin. Ob dieses Stück zum Skandal taugt? Das ist zu bezweifeln. Aber ein exzellentes Ensemble packt ein hochtabuisiertes Thema an, ohne in die Falle der "political correctness" zu tappen. Und schon wegen der geschmacklosen Witze lohnt sich auch für Nicht-Neuköllner die Reise."
Uwe Friedrich: Ensemble wagt sich ohne "political correctness" an ein Tabuthema. In: Der Tagesspiegel, 24. September 1999.
Empfohlene Zitierweise
"Fromme Lügen". In: Musicallexikon. Populäres Musiktheater im deutschsprachigen Raum 1945 bis heute. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Klaus Baberg in Verbindung mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. www.musicallexikon.eu
Letzte inhaltliche Änderung: 17. Februar 2022.