Bis keiner weint
Musical
Musik von Lukas Nimscheck
Arrangements von Markus Syperek
Buch von Constanze Behrends und Franziska Kuropka
Songtexte von Franziska Kuropka
Inszenierung
Uraufführung: 8. Juni 2023
Neuköllner Oper, Berlin, Bundesrepublik Deutschland
- Musikalische Leitung: Tobias Bartholmeß / Markus Syperek
- Regie: Mathias Noack
- Choreografie: Sabine Hack
- Step-Choreografie: Marie-Christin Zeisset
- Ausstattung: Lukas Wassmann
Besetzung:
- Vanessa Edler: Anna Sophie Weidinger
- Philipp, ihr Bruder: Nathan Johns
- Jasmina Rau: Tara Friese
- Lilly Juice: Laura Goblirsch
- August Kling: Fabio Kopf
Ensemble © Neuköllner Oper Berlin / Foto: Thomas Koy |
Premierenchronik
D | UA | 8. Juni 2023 | Neuköllner Oper, Berlin |
Inhaltsangabe
"Juniorproduzentin Vanessa Edler steht vor einer unlösbaren Aufgabe: Sie soll einen neuen Blockbuster drehen, der auch die sensibelsten Zuschauer*innen nicht vor den Kopf stößt: Eine politisch-korrekte Version von ´Schneewittchen´. Die Leitungsetage ihres Streaminganbieteres erwartet einen Kassenerfolg für Jedermann, Jederfrau, Jedermensch. Doch geht das überhaupt? Kann ein politisch korrekter Märchen-Film alle glücklich machen?
In ihrer Verzweiflung lädt Vanessa ein bunt zusammengewürfeltes Kreativ-Team zur Schreibklausur in ein abgelegenes Hotel: für das Drehbuch ihren Bruder Philipp - ein Gagschreiber aus dem Privatfernsehen, der auch die simpelsten Zuschauer abholen soll - und die feministische Romanautorin Jasmina Rau, die im Feuilleton für den literarischen Aktivismus gefeiert wird. Als beide, nichts voneinander wissend, aufeinandertreffen, wird klar: Dieses Team macht aus dem ´Spieglein an der Wand´ höchstens einen Scherbenhaufen. Jasmina und Philipp haben diametral gegensätzliche Positionen dazu, wie ein modernes Schneewittchen heute aussehen müsste und liefern sich erbitterte Wortgefechte. Und als Produzentin Vanessa dann auch noch die unerfahrene Influencerin Lilly Juice als Titelheldin besetzt und für die Rolle des Prinzen den profilierungssüchtigen Serienstar August Kling verpflichtet, steht da nun ein Team, das weitaus größere Baustellen hat, als ihr eigenes Drehbuch vermuten lässt. Die fünf jungen Kreativen diskutieren zwar leidenschaftlich über Political Correctness, verhalten sich privat aber... irgendwie anders. Und verwickeln sich schließlich in ein Beziehungschaos, bis ein aufgedeckter Skandal alles andere in den Schatten stellt..."
(aus: Werbeflyer der Neuköllner Oper)
v.l.n.r.: Anna-Sophie Weidinger, Tara Friese, Fabio Kopf, Laura Goblirsch, Mathan Johns © Neuköllner Oper Berlin / Foto: Thomas Koy |
Kritiken
"In professioneller Stamina versenken sich die jungen Künstler leidenschaftlich in ihre Figuren. Und die sind wohl den eigenen Lebensrealitäten gar nicht fern, angesichts der Omnipräsenz von Debatten um Gender, freie Selbstentfaltung, Social Media oder einen angemessenen Umgang mit Sprache. Und doch bleiben - trotz toller Stimmung im Saal - die Subjekte in der stereotypischen Anlage im Stück seltsam leblos, kalt. Man fühlt nicht mit ihnen, sie erstarren zu Abziehbildern kategorisierender Identitätsboxen.
Da werden viele Schubladen aufgemacht. Anfangs geht es tatsächlich um Political Correctness. Was darf und soll Entertainment, wo sind die Grenzen von Satire und Geschmack? Schnell dreht sich die Spirale der Themenkreise allerdings weiter: von Identität, Kapitalismus und Social Media über Spitzen in Richtung Schaubühne, Beziehungsstress, Geschwisterkonflikte zu Monarchie und Gewerkschaften, um schließlich bei Machtstrukturen im Showbusiness und ´Me Too´ zu kulminieren.
Entlang der mal mehr, mal weniger gewinnenden Gags wäre eine Profilierung der einzelnen Themenkomplexe wünschenswert. Dabei zeigen sich in den vielen gelungenen und detailreichen Szenen die Bemühungen des Regisseurs Mathias Noack, das Skript [...] zu bändigen. Insgesamt transformiert der Ideenreichtum das Stück zur Kuchenform, die bis zur Oberkante mit Teig gefüllt wird.
Dieser Eindruck drängt sich noch frappierender in der Musik von Lukas Nimschek auf. Sie bewegt sich in Anleihen grob zwischen Snarky Puppy, ´König der Löwen´ und Roger Whittaker und stellt die Seichtheit von Instagram und Co. eindrucksvoll zur Schau. Aber wo bleibt die Emotion, eine ästhetische Musicalerfahrung? Da gibt´s keine eingängigen Ohrwürmer, kaum Interessantes, zumeist lieblos aneinandergereiht wirkende Akkordverbindungen im Blocksatz."
Keno-David Schüler: Schneewittchen für Jedermensch, Neues Musical an der Neuköllner Oper. In: Tagesspiegel, 9. Juni 2023.
"Die aktuelle Zeiten sind zu ernst, als dass wir uns von früh bis spät mit noch mehr Ernstem auseinandersetzen müssten; Ernst soll bitte Ernst und Spaß soll bitte Spaß bleiben, und fertig, aus.
Sie ahnen schon, falls Sie das Obige gelesen haben, dass ich als ein eingefleischter E-Musik-Fanatiker mich liebend gern mit durchaus andersartig gelagerten Werken zu beschäftigen pflege als dem gestern Abend seine hysterisch umjubelte Premiere gefeiert habenden ´Meinungsmärchen mit Musik´ nach einem Buch von Constanze Behrends & Franziska Kuropka. ´Bis keiner weint (Scheißtitel übrigens!) heißt es. [...]
Wie kann man (sorry: frau) sich nur so einen umständlichen Schwachsinn ausdenken? Wie hanebüchen ist denn das!
Ja und das alles war und ist nichts anderes als uns (das Publikum) in die verquere Denke einer mit-/untereinander versippten und verschwägerten It´s-Showtime-Blase einfühlen zu wollen oder all dieses Erwartbare, was sich mit den It´s-Showtime-Loserinnen und -Losern zwischenmenschlich halt so abspielt, voyeuristisch zu begleiten. Der Gerechtigkeit halber muss ich allerdings betonen, dass das gestern Abend beim Premierenpublikum volltreffermäßig anzukommen schien -- außer bei mir, der schlecht gelaunten Spaßbremse.
Die Ausführende dieses auffälligen Seichtlings haben freilich meine vollste Sympathie."
Andre Sokolowski: Total seicht, "Bis keiner weint" an der Neuköllner Oper. In: Kultura-Extra, Das Online-Magazin, 9. Juni 2023.
"Ihr [Constanze Behrends, Franziska Kuropka] Buch reißt Themen wie bisexuelle Umorientierung, Drogenkonsum, Bruder-Schwester-Konflikt, Nötigung zu bizarren sexuellen Praktiken und Vorurteile gegenüber Menschen mit anderer Hautfarbe nur an. Das Publikum wird mit seiner ´Ach ja, das gibt es ja auch noch´-Einsicht allein gelassen, da sich bereits die nächste ´Baustelle´ auftut. Unnötiger Schlusspunkt ist eine chaotische Pressekonferenz, die an das Ende der 1990er Girl-Group ´Tic Tac Toe´ erinnert und auf der Schauspieler August Kling seine Autobiografie ´Männliche Entgiftung´ vorstellt.
Es ist eindeutig Aufgabe eines Regisseurs, ein solches, in sich selbst verlierendes Handlungs-Wirrwarr nachvollziehbar für das Publikum auf die Bühne zu bringen. Matthias Noack schert das allerdings wenig. Seine Inszenierung punktet zwar in den zahllosen, zum Teil stark überzeichneten Interpretationen des bekannten Märchenstoffes als ´Schneewitt´ beziehungsweise ´Schnittchen´ mit nichtbinären Darstellenden, einem Soft-Porno-Prinzen Superhot und LGBTQIA+-Regenbogen-Zwergen, bleibt aber außerhalb der schrillen Märchenwelt eigenartig blutleer. Dramatische Szenen wie die Teambildungs-Maßnahme ´Saufen´, die in den Missbrauchs-Vorwürfen von Frauen gegen den ´Prinzen´ als Cliffhanger vor der Pause gipfelt, verpuffen im emotionalen Nichts. Gleiches gilt für den Beginn des zweiten Teils, in dem Fabio Kopf als August seine Verzweiflung und Wut in einem Steppsolo ausdrückt. Dabei überdeckt das Klackern seiner Schuhe jedoch den anklagenden Gesang der Frauen, die hinter ihm in an Telefonzellen erinnernden Plexiglas-Kuben stehen. Sie bilden die einzigen Ausstattungs-Elemente im ansonsten leeren, mit zwei Spiegelfolien begrenzten Bühnenraum von Lukas Pirmin Wassmann. Von ihm stammt auch das stimmige farbenfrohe Kostümbild.
Ähnlich wie die Inszenierung gleichen die Kompositionen von Lukas Nimscheck einem Gemischtwarenladen."
Kai Wulfes: Bis keiner weint, Neuköllner Oper, Berlin. Online-Portal: musicalzentrale.de, 21. Juni 2023.
v.l.n.r.: Tara Friese (Jasmina Rau), Anna Sophie Weidinger (Vanessa Edler) und Nathan Johns (Philipp) © Neuköllner Oper Berlin / Foto: Thomas Koy |
Kommentar
Bei der Uraufführung handelt es sich um die Abschlußproduktion des 4. Jahrgangs im Studiengang Musical/Show von der Universität der Künste, Berlin, in Kooperation mit der Neuköllner Oper.
Empfohlene Zitierweise
"Bis keiner weint". In: Musicallexikon. Populäres Musiktheater im deutschsprachigen Raum 1945 bis heute. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Klaus Baberg in Verbindung mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. www.musicallexikon.eu
Letzte inhaltliche Änderung: 22. Juni 2023.