Alice
Musik und Gesangstexte von Tom Waits und Kathleen Brennan
Buch von Paul Schmidt nach Lewis Carroll
Deutsche Übersetzung von Wolfgang Wiens
Inszenierung
Uraufführung: 19. Dezember 1992
Thalia Theater Hamburg, Bundesrepublik Deutschland
- Regie und Ausstattung: Robert Wilson
- Licht: Heinrich Brunke / Robert Wilson
- Kostüme: Frida Parmeggiani
- Sounddesign: Gert Bessler
Besetzung:
- Alice: Annette Paulmann
- Charles Dodgson / weißes Kaninchen / weißer Ritter: Stefan Kurt
- Lilie: Angelika Thomas
- Rose: Sona Cervena
- Gänseblümchen: Oana Solomonescu / Cornelia Schirmer
- Raupe: Jörg Holm
- Fisch: Justus von Dohnányi
- Frosch: Jan Josef Liefers
- Herzogin: Sven-Erik Bechtolf
- Köchin: Angelika Thomas
- Cheshire-Katze: Stephan Lohse
- Hutmacher: Jan Josef Liefers
- Märzhase: Sven-Erik Bechtolf
- Haselmaus: Cornelia Schirmer
- Vater William: Jörg Holm
- sein Sohn: Justus von Dohnányi
- Rehkitz: Oana Solomonescu
- Gärtner: Circe
- Schachkönig: Jörg Holm
- Schachkönigin: Sona Cervena
- weißes Schaf: Angelika Thomas
- Humpty-Dumpty: Sven-Erik Bechtolf
- Tweedledum: Jörg Holm
- Tweedledee: Justus von Dohnányi
- schwarzer Ritter: Stephan Lohse
Premierenchronik
D | UA | 19. Dezember 1992 | Thalia Theater, Hamburg |
USA | EA | 6. Oktober 1995 | Brooklyn Academy of Music, New York |
CH | EA | 28. März 2013 | Theater, Luzern |
Inhaltsangabe
"Nach dem grandiosen Erfolg von 'The Black Rider' entstand das Avantgarde-Musical 'Alice' als erneute Zusammenarbeit von 'Tom Waits' und Robert Wilson. Co-Autorin für Text und Musik ist 'Kathleen Brennan', die langjährige musikalische Partnerin von Tom Waits.
Die Musik ist ungewöhnlich weich und zart für Tom Waits, gleichzeitig finden sich jedoch auch bekannte Klänge: raue Jazz-Balladen, lyrische Melancholie über Tod und Sehnsucht, im Ganzen eine surreale und exotische Welt. Waits benutzt Phantastisches, fremdartige Charaktere und Bilder, um die innere Welt eines Mannes zu entwerfen, die geprägt ist von Verlust und Sehnsucht in einer Atmosphäre aus Leid und Träumerei, Wahnsinn und Resignation. In ihrer Gegensätzlichkeit und Unfassbarkeit drängt sich der Vergleich mit der Theatermusik Kurt Weills auf, oder wie Tom Waits selbst sagte: 'Alice is adult songs for children, or children’s songs for adults. It’s a maelstrom or fever-dream, a tone-poem, with torch songs and waltzes... an odyssey in dream and nonsense.'
Das Werk beschäftigt sich mit Lewis Carroll, dem Autor von 'Alice im Wunderland' und 'Durch den Spiegel und was Alice dort fand', und seiner Besessenheit von der jungen Alice Liddell, dem Mädchen, das ihn zu diesen Werken inspirierte. Die Verwirrungen und Obsessionen des Autors werden thematisiert, der Handlung und Gegenwart, Traum und Wirklichkeit, die Figur und die reale Alice nicht mehr unterscheiden kann."
Inhaltsangabe Verlag Felix Bloch Erben, Berlin 2024.
Kritiken
"Die elf Männer machen ein paar Tanzschritte. Sie beugen sich zum Boden, als wollten sie Blumen pflücken. Sie betrachten ihre Hände, als sei der Handteller ein Spiegel. Sie bewegen den Zeigefinger der einen Hand langsam auf die Innenfläche der anderen Hand zu, als säße dort eine Fliege, die sie zerdrücken, ein Schmetterling, den sie aufspießen wollten. Im letzten Augenblick vor dem Zusammenprall der Hände brechen sie die Bewegung ab und schlagen sich sachte auf die Fersen.
In der nächsten Szene rollt eine riesige Kamera mit schwarzem Tuch langsam und bedrohlich auf einen winzigen Holzstuhl zu. Ein dickes Mädchen setzt sich auf den kleinen Stuhl, das ist Alice, Annette Paulmann. Ein bleicher, bekümmerter Herr hantiert an der Photo-Maschine, das ist Dodgson, Stefan Kurt. Wie ein stählerner Phallus wächst das Objektiv der Kamera dem Mädchen auf dem Stuhl entgegen.
Das ist das Vorspiel. Und nun beginnen Alice und ihr Dichter Dodgson ihre Reise unter die Erde, in Alices Wunderland. Alice wird immer Alice bleiben. Dodgson wird sich vielfältig verwandeln: in das Weiße Kaninchen, in den Weißen Ritter und wieder zurück in Dodgson.
[...] Eine Geschichte, Alices Geschichte erzählt uns die Aufführung nicht. Kein Bann regiert über den Abend, sondern die bunteste, leerste Betriebsamkeit. Ein Nummernzirkus rollt ab, eine Ausstattungsrevue, also das in der Gattung 'Musical' Übliche, avantgardistisch verpackt. [...] Eine Geschichte, Alices Geschichte erzählt uns die Aufführung nicht. Kein Bann regiert über den Abend, sondern die bunteste, leerste Betriebsamkeit. Ein Nummernzirkus rollt ab, eine Ausstattungsrevue, also das in der Gattung "Musical" Übliche, avantgardistisch verpackt.
Robert Wilson ist hierbei weniger ein Erzähler, ein Bilderdichter als ein Arrangeur, ein Mixer von wenigstens drei verschiedenen Shows. 'Alice' ist erstens eine hohl-erlesene Theatermodenschau des Ateliers Frida Parmeggiani. 'Alice' ist zweitens ein Tom-Waits-Konzert, das mit Tanztee-Gesäusel beginnt, sich dann aber kraftvoll zum rauhen Kirmeslärm, ja zum Walküren-Pathos steigert. 'Alice' ist drittens oder auch erstens eine hochvirtuose Light-Show von Bob Wilson himself, eine Scheinwerferschlacht, ein Lichtorgelkonzert.
Doch alle äußerliche Pracht, alle schier betäubende Perfektion des Spektakels können nicht verdecken, daß 'Alice' im Innern eine dürftige, ja konfuse Angelegenheit geblieben ist. Statt eine eigene, neue Geschichte für Alice und sich selbst zu finden, statt mit seiner Heldin durch ein ominöses Wilsonwunderland zu wandern, begnügt sich der Regisseur damit, Carrolls alte Geschichte zu bebildern und zu kolorieren."
Benjamin Henrichs: Zucker und Sekt und alles was schmeckt. Ein Weihnachtsmärchen am Hamburger Thalia Theater: Robert Wilson inszeniert und kandiert "Alice im Wunderland". In: Zeit, 1/1993, 1. Januar 1993.
"Keinem Menschen ist es bis heute gelungen, dieses Traum-Puzzle wieder richtig zusammenzusetzen. Auch dem Star-Regisseur Robert Wilson nicht! Sein 'Alice'-Musical im Hamburger Thalia Theater bleibt trotz des riesigen Aufwands (Gesamtkosten ca. 1 Millionen Mark!) nur eine blasse, seltsam abstrakte Kopie seines 'Black Rider"-Spektakels vom vergangenen Jahr.
[...] Da Wilson aber - nach eigenen Worten - sich für die Persönlichkeitsstruktur des Dichters nie interessiert hat, blieb ihm als Regisseur nichts anderes übrig, als den Traum-Visionen aus der Buchvorlage seine eigene Bilderwelt entgegenzusetzen - und da ist die Phantasie des britischen Exzentrikers turmhoch schärfer, bizarrer und vor allem: einfach viel konkreter. [...] Die Teste des amerikanischen Sprachwissenschaftlers Paul Schmidt tragen in der uninspirierten Übersetzung von Wolfgang Wiens nicht sonderlich zur Konkretisierung des konfusen Handlungsablauf bei.
Die Musik zum Spektakel schrieb - wie bereits beim 'Black Rider' - Rock-Barde und Blues-Schwadroneur Tom Waits. Dementsprechend exotisch quietscht und jammert es aus dem Orchestergraben: ein Theremin - ein elektro-akustisches Instrument - imitiert elektronisch eine singende Säge, mit Geigenbogen gestrichene Metallstäbe klingen wie Eisennägel aus Glas -, eine Veröffentlichung des Soundtracks steht also nicht zu befürchten. Nach fast drei Stunden ist der ganze Zauber am ratlosen Zuschauer vorbeigerauscht."
Wolfgang Wiegand: Alice. In: musicals, Das Musicalmagazin, Heft 39, Februar/März 1993, Seite 18.
Medien / Publikationen
Audio-Aufnahmen
- "Alice". Original Cast Hamburg, 1992. ANTI 2002 (1xCD).
- "Alice". Original cast New York, 2001. Epitaph 6632-2. (1xCD).
Empfohlene Zitierweise
"Alice". In: Musicallexikon. Populäres Musiktheater im deutschsprachigen Raum 1945 bis heute. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Klaus Baberg in Verbindung mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. www.musicallexikon.eu
Letzte inhaltliche Änderung: 9. September 2024.