Anatevka (Fiddler On The Roof)
Musical
Musik von Jerry Bock
Buch von Joseph Stein
Gesangstexte von Sheldon Harnick
Nach einer Erzählung "Tevje, der Milchmann" von Scholom Aleichem
Deutsche Übersetzung des Buchs und der Liedtexte von Rolf Merz
Inszenierung
Deutschsprachige Erstaufführung: 1. Februar 1968
Operettenhaus, Hamburg, Bundesrepublik Deutschland
Regie und Choreografie der Original-Produktion in New York: Jerome Robbins
- Regie: Karl Vibach
- Choreografie: Tom Abbott
- Musikalische Leitung: Dalibor Brazda
- Bühnenbild: Boris Aronson
- Kostüme: Edith Matisek
Besetzung:
- Tevje, ein Milchmann: Shmuel Rodensky
- Golde, seine Frau: Lilly Towska
- Zeitel, ihre Tochter: Eva Berthold
- Hodel, ihre Tochter: Ute Hertz
- Chava, ihre Tochter: Dagmar Laurens
- Sprintze, ihre Tochter: Brigitte Schacht
- Bielke, ihre Tochter: Manuela Dahm
- Jente, Heiratsvermittlerin: Haide Lorenz
- Frumah Sarah: Josta Hoffmann
- Oma Zeitel: Marianne Hachfeld
- Schandel: Senta Sommerfeld
- Mottel Kamzoll, Schneider: Herbert Dubrow
- Perchik, Student: Michael Rüth
- Lazar Wolf, Metzger: Rolf Arndt
- Motschach, Gastwirt: Martin Rosen
- Rabbi: Walter Grüters
- Mendel, sein Sohn: Peter Drescher
- Awram, Buchhändler: Erich Uhland
- Nachum, der Bettler: Lothar Anton
- Wachtmeister: Reinhold Nietschmann
- Fedja, ein junger Russe: Bernd Hoffmann
- Der Fiedler: David Winer-Moses
- Russischer Sänger: Julius Skoda
- Russentänzer: Juri Cumpelik, Stanislav Simek, Jiri Sykora
- Flaschentänzer: Richard Bernwinkler, Volker Clages, Ulrich Quernhorst, Jiri Sykora
- Dorfbewohner: Ruth Gleim, Astrid Kollex, Marion Thüren, Ingrid-Hertha Verch, Hanna Waage, Antje Wahlen, Gerti Eller, Helmuth Behrendt, Harry Brandert, Wolfgang Feustel, Peter Rosemeyer
Premierenchronik
USA | UA | 22. September 1964 | Imperial Theatre, New York |
Israel | EA | 7. Juni 1965 | Alhambra Theater, Tel Aviv |
NL | EA | 21. Dezember 1966 | Theater Carré, Amsterdam |
GB | EA | 16. Februar 1967 | Her Majesty´s Theatre, London |
D | Dspr. EA | 1. Februar 1968 | Operettenhaus, Hamburg |
CSSR | EA | 21. Februar 1968 | Tyl Theater, Prag |
A | EA | 15. Februar 1969 | Theater an der Wien, Wien |
DDR | EA | 23. Januar 1971 | Komische Oper, Berlin |
CH | EA | 16. Dezember 1971 | Städtebundtheater Biel-Solothurn (Gastspiel) |
Inhaltsangabe
Die Geschichte, die das Musical erzählt, spielt 1905 in dem kleinen Örtchen Anatevka, in der Nähe von Kiew. Tevje ist ambulanter Milchhändler und hat fünf Töchter, von denen drei im heiratsfähigen Alter sind. Doch die Tradition verpflichtet ihn, immer zuerst die Älteste zu verheiraten. Außerdem ist es in Anatevka üblich, dass die Ehe über die Heiratsvermittlerin angebahnt wird. Über ihre Vorschläge entscheiden die jeweiligen Väter, die untereinander auch den Ehevertrag aushandeln. Zu sehen bekommen sich die Brautleute also zumeist erst am Hochzeitstag.
Tevje freilich muss erleben, wie diese Regel, nach der er selbst und seine Frau Golde vermählt wurden, von seinen Töchtern außer Kraft gesetzt wird. Die Älteste, Zeitel, soll nach dem Willen ihrer Eltern den wohlhabenden, aber älteren Witwer Lazar Wolf heiraten. Doch diese hat sich heimlich mit dem armen, aber netten Schneider Mottel Kammzoll verlobt. Kleinlaut bitten sie Tevje um Zustimmung zur Verbindung. Weichherzig, wie er nun einmal ist, gibt er nach.
Die zweite ist Hodel. Sie verliebt sich in den politisch aufgeweckten Studenten Perchik, den auch Tevje mag, der aber über kein nennenswertes Einkommen verfügt. Wie soll man ihm da seine Tochter anvertrauen. Tevje sagt Nein. Doch sie ignorieren sein Verbot und beschließen ohne seine Zustimmung zu heiraten. Tevje wird nur noch um seinen Segen gebeten.
Die dritte Tochter Chava schließlich verliebt sich in den Russen Fedja. Erzürnt verbietet Tevje ihr den Umgang mit ihm: „Er ist eine andere Art von Mensch“, hält er ihr vor Augen. „Wie heißt es im Guten Buch: Bleib unter deinesgleichen. Mit anderen Worten: Ein Vogel liebt möglicherweise einen Fisch. Aber wo wollen sie zusammen ihr Haus bauen?“ Daraufhin tritt Chava heimlich zum russisch-orthodoxen Glauben über und heiratet Fedja trotzdem. Ohnmächtig, trauernd verstößt Tevje sie aus dem Familienverbund. Dies ist seine Grenze. Über die Tradition der Eheanbahnung kann man mit ihm streiten, auch sieht er zähneknirschend darüber hinweg, dass seine Meinung bei der Wahl der Ehepartner nicht unbedingt gefragt ist, doch seinen Glauben aufgeben, dem muss er seine Zustimmung verweigern. „Kann ich alles leugnen, woran ich glaube? Sollte ich versuchen, mich so weit zu verbiegen, ich würde zerbrechen.“ Seine Identität als Jude wäre gefährdet, das Leiden in der Diaspora verlöre ihren Sinn, der stabilisierende Zusammenhalt der Gemeinschaft zerbräche, die fragile Balance des Fiedlers auf dem Dach würde gestört und er stürzte in die Tiefe.
In der Tat lebt die jüdische Bevölkerung von Anatevka unsicher. Sind es zuerst nur Zeitungsberichte und persönliche Erzählungen, die von Judenverfolgungen in anderen Landesteilen berichten, so teilt der Wachtmeister Tevje eines Tages vertraulich mit, dass er die Anweisung zu einem Pogrom auch in dieser Stadt erhalten habe. Ausgerechnet zur Hochzeitsfeier von Zeitel und Mottel schlagen die Russen los und zertrümmern systematisch den ohnehin geringen Besitzstand der Juden.
Schließlich folgt der Erlass, dass sie nicht länger geduldet sind. Sie müssen Anatevka binnen drei Tagen verlassen. Es spielt keine Rolle, dass sie teilweise schon seit Generationen in dem Ort wohnen. Sie haben drei Tage Zeit, um ihr Hab und Gut, das sie nicht mitnehmen können, zu verkaufen. Dann verstreuen sie sich in alle Winde: Jente, die Heiratsvermittlerin, bricht nach Palästina auf, Tevje mit Frau und Töchtern nach Nordamerika, Zeitel und Mottel gehen zunächst nach Warschau (seinerzeit noch zum Russischen Reich gehörend, da es Polen nicht gab), wollen aber später in die USA nachkommen, Hodel ist ihrem Studenten, der nach Sibirien verbannt wurde, gefolgt. Selbst Chava und Fedja verlassen Anatevka. Fedja eher aus Sympathie denn gezwungenermaßen. Sie wollen nach Krakau (was seinerzeit zu Österreich gehörte).
Mit ihnen geht der Fiedler, eine gebrochene Folge der Eingangsmelodie wiederholend. Denn an der unsicheren Existenz der Vertriebenen wird sich auch anderenorts nichts ändern.
(Wolfgang Jansen)
Kritiken
"Aber Anatevka steht und fällt ohnehin mit dem Hauptdarsteller, der also nicht den Fiedler auf dem Dach spielt, diese Symbolfigur aus Chagalls Bilderwelt, sondern den Milchmann Tevje. Nach Zero Mostel in New York und Topol in London erscheint in Hamburg, wie vordem schon genau 352mal in Tel Aviv, der Israeli Shmuel Rodensky vom Habimah-Theater. Und dieser Gast lohnt die weiteste Anreise, ein tapsiger Bär mit Zottelbart, auf dem Kopf den Speckdeckel, wie ihn nicht anders auch die Hafenarbeiter gleich rechts um die Ecke vom Operettenhaus tragen, ein unerhört stark ausstrahlender Schauspieler mit einer beachtlichen Musikalität. Er ist ein abendfüllendes Ereignis, allein schon mit seinem gebrochenen Deutsch, das dem Jiddischen oft zum Verwechseln ähnlich klingt - ein Glücksfall. Da führt einer mit immer präsent gehaltener praller Körperlichkeit, mit seiner verschmitzten Flickäugigkeit und einem klug differenzierenden Patriarchen-Charme das Publikum über drei Spielstunden hin wie am Bändel. Da zeigt einer vom Typ Kerl wie ein Baum außer einem unordentlich sortierten Schatz von Bibelzitaten die Selbstverteidigung durch Sophistik als sanfte Kunst des Überlebens vor. Da überspielt ein einzelner, als Milchmann verkleidet, die reichhaltige Klischeesammlung dieser Geschichte, die Dürftigkeit der musikalischen Nummern, die vollends riskante Schräglage dieses Musicals am Schluß, wenn überall im Hause die Schnupftücher gezogen werden, ehe die lang anhaltende Danksagung einsetzt."
Klaus Wagner: Der Fiedler auf dem Dach, Deutschsprachige Erstaufführung von "Anatevka" in Hamburg. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 5. Februar 1968.
"Das Stück ist so erstaunlich wie sein Star. Nirgends Klamauk - weder bei fröhlicher Kneipen-Szene noch bei der tänzerischen Darstellung eines grotesken erdachten Traumes. Es hat kein Happy-End, im Gegenteil, die Juden müssen raus aus ihrem Dorf Anatevka: So ist der Schluß.
Aber auch der Dramatik wird dort, wo sie dem Stoff nach roh und brutal sein müßte, die Spitze abgebrochen. Eine anti-jüdische Aktion, von ´oben´ befohlen, wird vom russischen (christlichen) Polizeichef in ein Scheinpogrom umgewandelt. Die Gottesnähe der frommen Gemeinde, so naiv sie sich ausspricht, wird nirgends Bigotterie. Es ist ein herzrührender Bilderbogen, der klagt, nicht anklagt, und dessen Bögen mit Einzelheiten vollen Humors gezeichnet sind, und dies noch zu böser Letzt: ´Ich geh´ nach Chicago´, sagt beim allgemeinen Auszug der einzig reiche Mann von Anatevka, der Metzger Lazar Wolf (Rolf Arndt). Ein Ausruf, der gewiss eine amerikanische Zutat des theatergewandten Librettisten Joseph Stein ist.
Die Musik des Musicals? - Wer je im Pariser Viertel um die Rue du Temple, wo fromme Juden wohnen, Schallplatten gekauft hat, kennt den musikalischen Reichtum jüdischer Folklore, die, in der Tonalität des Tempelgesangs wurzelnd, im mittelalterlichen Deutschland streng ritterliche Volksliedzüge angenommen, nicht weniger schön sich jedoch in Polen und Rußland mit den dort gewachsenen Tanzweisen vermählt hat. Es war wohl die Pflicht und Schuldigkeit des Komponisten Jerry Bock, das Ganze instrumental auf gemäßigte Pseudo-Jazz-Art aufzuzäumen (der Dirigent Dalibor Brazda polierte den amerikanischen Glanz ein bißchen zu eifrig, und leiser wäre stärker gewesen), aber die ursprüngliche Kraft dieser neu gezähmten und nachempfundenen Volksmusik schlägt überall durch. Schon ist das Lied vom armen Mann, der lieber reich sein möchte, ein Schlager, den bald auch bei uns die Geiger von den Dächern spielen werden."
Josef Müller-Marein: Jüdisches Musical, "Anatevka" - ein Welterfolg. In: Die Zeit, 9. Februar 1968.
"Zwar hat Vibach nach der Pauszeichnung des Originalmodells gearbeitet (einschließlich der übernommenen Bühnenbilder von Boris Aronson - die Kostüme sind deutsche Eigenproduktion von Edith Matisek), und er hat sich des gleichen Tom Abbott als choreographischen Mitarbeiters versichert, der auch schon in London dabei war, aber die Do-it-yourself-Methode hat sich an diesem Objekt doch nur sehr begrenzt bewährt. Man erkennt gerade noch die Umrisse von Robbins´ Inszenierung und Choreographie. Ihr Geist und ihr szenisches Fleisch aber sind ziemlich geschrumpft. Und auch mit dem Handwerk steht´s nicht zum besten - es fehlt durchaus an Attacke, Projektion und Timing.
Daß die Hamburger Aufführung so flach, so unatmosphärisch wirkt, hat aber auch mit den Schauspielern zu tun. In New York war Robbins wochenlang mit seinem Ensemble in jüdische Familien gegangen und hatte sie an Ort und Stelle jüdische Sitten und Gebräuche, Traditionen und Rituale studieren lassen - ganz abgesehen davon, daß er sich seine Darsteller alle typgerecht aus einem unerschöpflichen jüdischen Schauspielerreservoir aussuchen konnte. Was Hamburg dagegen bietet, ist ein Schmink- und Masken-Judentum ohne menschliche Substanz (zu den ganz wenigen Asunahmen gehört Herbert Dubrow in der Rolle Mottels, des Schneiders, aus dessen traurigen, müden, kurzsichtigen Augen wirklich ein Menschenschicksal blickt).
Der Abstand der Hamburger Schauspieler zu ihren Rollen (bei der Darstellerin der Hodel auch zur Musik - so falsch hat man selten im deutschen Theater singen hören) wurde um so deutlicher, da man für den Tewje einen israelischen Schauspieler importiert hatte, der alles mitbrachte, was seinen deutschen Kollegen fehlte: Shmuel Rodensky."
Horst Koegler: Vater Courage, jiddisch und als Musical. In: Theater heute, Nr. 3, März 1968, Seite 44.
Medien / Publikationen
Audio-Aufnahmen
- "Fiddler On The Roof". Original Broadway Cast, Studio-Einspielung vom 27. September 1964, USA 1964, RCA/Ariola International 1985, RD87060 (1xCD).
- "Anatevka". Deutsche Originalaufnahme Operettenhaus, Der Welterfolg des Musicals "Fiddler On The Roof" in deutscher Premierenbesetzung, Studioeinspielung 1968, Hamburg, Teldec 2292-43897-2 (1xCD)
- "Deutsche Originalaufnahme aus ´Anatevka´ (Fiddler on the roof)". Operettenhaus Hamburg, Shmuel Rodensky, CBS 3280, Vinyl-Single 1968, A-Seite: "Wenn ich einmal reich wär´", B-Seite: "Zum Wohl!"
- "Anatevka" ("Fiddler On The Roof"), Melodien-Querschnitt aus dem Musical in deutscher Sprache. metronome 1968, HLP 10.190 (1xLP).
- "Anatevka" ("Fiddler On The Roof"). Original-Einspielung der Inszenierung im Theater an der Wien, Studioeinspielung, Mai 1969, Preiserrecords 93200, Digital remastered 1987 (1xCD).
Video / DVD
- "Anatevka" ("Fiddler On The Roof"). Musicalfilm, USA 1971, Zweitausendundeins Edition, Film 54, B004LR975C. (1xDVD)
Literatur
- Scholem Alejchem: Die Geschichten von Tewje dem Milchhändler. Berlin (DDR): Volk und Welt 1977.
- Wolfgang Jansen: "...überwältigender Witz und wunderbar tiefer Ernst", Zur deutschsprachigen Erstaufführung von Jerry Bocks `Anatevka´ in Hamburg 1968. In: Ders.: Musicals, Geschichte und Interpretation. Gesammelte Schriften zum populären Musiktheater, Band 1, Münster u.a.: Waxmann 2020, Seite 256-263.
Kommentar
Die Amsterdamer Premiere war zugleich die europäische Erstaufführung. Die Produzenten änderten den Originaltitel in "Anatevka". Dieser Titel wurde in der Bundesrepublik, Österreich und der Schweiz übernommen.
Noch liegt kein Premieren-Programmheft vor. Die Besetzungsliste wurde daher aus verschiedenen Quellen (späteren Programmheften, Premierenrezensionen u.a.) zusammengestellt. Sobald ein Programmheft der Premiere vorliegt, werden die Angaben noch einmal abgeglichen und gegebenenfalls korrigiert.
Die Erstaufführung in der DDR trug den Titel "Der Fiedler auf dem Dach".
Empfohlene Zitierweise
"Anatevka" ("Fiddler On The Roof"). In: Musicallexikon. Populäres Musiktheater im deutschsprachigen Raum 1945 bis heute. Herausgegeben von Wolfgang Jansen und Klaus Baberg in Verbindung mit dem Zentrum für Populäre Kultur und Musik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. www.musicallexikon.eu
Letzte inhaltliche Änderung: 26. Juni 2022.